Die Edelkastanie, der Marroni-Baum (Castanea sativa) wächst in der Schweiz nicht nur auf der Alpensüdseite. Auch auf der Nordseite gibt es schöne, wenn auch nicht sehr ausgedehnte Edelkastanienwälder und Kastanienhaine, die an den Süden erinnern.
Im Juli sind die mächtigen Bäume von Weitem an ihrer Blütenpracht zu erkennen und der charakteristische, schwere Duft liegt in der Luft. Im Herbstlicht, leuchtet das gelb-braune Laub und lädt zu Spaziergängen ein.
Kastanien als Zahlungsmittel
Die Edelkastanie ist wärmeliebend und spätfrostempfindlich. Sie findet sich deshalb vor allem im Wallis, im Chablais, oberhalb von Morges am Genfersee, im Tessin entlang der wärmenden, föhngeprägten Mittellandseen und im St. Galler Rheintal. Sie ist kalkfliehend und wächst bevorzugt auf saurem Gestein oder auf Moränenschutt.
Die Edelkastanie stammt aus der Türkei und wurde von den Römern ins Tessin gebracht. Sie gelangte wahrscheinlich bereits zur Römerzeit auf die Alpennordseite und über die oberrheinischen Tiefebene dem Rhein entlang bis nach Holland. Sogar in Südengland sind Edelkastanienwälder zu finden. Sehr oft wachsen Rebberge in deren Nähe.
Im Mittelalter war die Kastanienkultur auf der Alpennordseite sehr verbreitet. Dokumente zeigen, dass den Klöstern Kastanienfrüchte als Zehnten abgeliefert werden mussten. Auch viele Flurnamen deuten daraufhin, dass die Edelkastanie schon lange auf der Alpennordseite der Schweiz heimisch ist: Kastanienbaum, Kestenholz, Chestenewald, La Chataîgne etc.
Edelkastanie – Rosskastanie
Die beiden Baumarten sind nicht miteinander verwandt. Die Edelkastanie gehört zur Familie der Buchengewächse, die Rosskastanie zu den Rosskastaniengewächsen. Die Ähnlichkeit der Früchte hat ihnen den Namen gegeben: beide Arten bilden Igel – die Edelkastanie mit feinen, scharfspitzigen Stacheln, die Rosskastanie mit dicken, weichen Stacheln. Im Innern der Igel bildet die Edelkastanie meist drei Samen (Früchte der Kastanie), die Rosskastanie nur einen. Die Samen der Rosskastanien sind für Menschen ungeniessbar. Die beiden Baumarten lassen sich gut an ihren Blättern unterscheiden: Die Edelkastanie hat ein einfaches, die Rosskastanie ein handförmig zusammengesetztes Blatt.
Vielfältiger Nutzen
Abb. 2 - Herbstzeit ist Marronizeit. Thomas Reich (WSL)
Die Edelkastanie wird wegen ihres vielfältigen Nutzens kultiviert. In vielen Gegenden, die für den Getreidebau ungünstig sind, waren die Kastanienfrüchte lange Zeit das Hauptnahrungsmittel. Die Früchte wurden geröstet und gekocht und als Mehl in Brot und Brei verwendet. Sie dienten auch der Schweinemast. Die Blätter verfütterte man den Ziegen, das Laub verwendete man als Streu im Stall.
Das witterungsbeständige Holz war geschätzt für den Aussenverbau und für Rebstickel und Pfähle. Es wird auch heute noch für Schindeln, Fensterrahmen, Gartenmöbel und den technischen Hangverbau gebraucht, da es nicht imprägniert werden muss. Und schliesslich war die Kastanie eine Tanninquelle für die Gerberei, bis dann in den 1950er Jahren die Tannine durch chemische Gerbmittel abgelöst wurden.
Weideland anstelle des Kastanienhains
Abb. 3 - Kastanienselve im Tessin. Foto: Doris Hölling (WSL)
Je nachdem, ob die Kastanie wegen ihres Holzes oder wegen der Früchte angebaut wird, kultiviert man sie anders. Brennholz und Pfähle werden in sogenannten Niederwäldern produziert. In diesen Wäldern setzt man die Kastanien etwa alle 30 Jahre auf den Stock. Die Kastanie produziert danach leicht wieder neue Stockausschläge.
Für die Bauholzproduktion wachsen die Bäume in Hochwäldern und für die Fruchtproduktion werden Kastanienhaine (Selven) angelegt. Da die Früchte sich nur auf der Aussenseite der Krone entwickeln, pflanzt man die Bäume mit grossen Abständen, so dass sie mächtige Kronen entwickeln können. Zwischen den Bäumen gibt es Weideland.
Wilde Kastanien produzieren meist kleine Früchte. Deshalb werden vielerorts die Bäume mit qualitativ hochwertigen Sorten veredelt – wie es im Obstbau geläufig ist. In jedem Wuchsgebiet gibt es spezielle Sorten, die an die lokalen Boden- und Witterungsverhältnisse angepasst sind. Die Marroni sind eigentlich speziell grossfrüchtige Sorten aus Italien. Da die Edelkastanie weitgehend selbststeril ist (kann sich nicht selbst befruchten), empfiehlt es sich, mindestens zwei verschiedene Bäume anzupflanzen, um Früchte zu erhalten.
Mit der Verbreitung der Kartoffel und dem Bau der Eisenbahn, welche Importe von Reis und anderen Getreidearten verbilligte, verlor die Edelkastanie im 19. Jahrhundert ihre wirtschaftliche Bedeutung. In der Zentralschweiz wurden zudem die Edelkastanienhaine zugunsten von Weideland gerodet, als 1866 die Anglo-Swiss Condensed Milk Company in Cham gegründet wurde (die Firma fusionierte 1905 mit Nestlé). Mit der Abnahme der Zahl der Kastanienbäume stieg damals rasch die Zahl der Kühe.
Erhalt der letzten Kastanienhainrelikte
Überall auf der Alpennordseite geht die Edelkastanie seit langem zurück. Einerseits sind die Früchte und auch das Holz nur noch von lokalem Interesse, anderseits können sich die Edelkastanien auf der Alpennordseite nur halten, wenn sie mit forstlichen Eingriffen begünstigt werden. Zum Niedergang der Kastanie trägt leider auch die eingeschleppte Kastanienrindenkrankheit bei.
Heute werden Anstrengungen unternommen, die Edelkastanienwälder und -haine als Teil der Kulturlandschaft wieder herzustellen. So setzen sich die IG Pro Kastanie Zentralschweiz, die Kantone und der Fonds Landschaft Schweiz für den Erhalt der letzten Hainrelikte ein. In der Zentralschweiz soll ein Netz von Kastanienhainen entstehen, in dem alte Haine restauriert und auch neue Kastanienhaine angelegt werden.
Die Edelkastaniengallwespe
Seit einiger Zeit bedroht ein neuer Schädling die Edelkastanien in der Schweiz. Aus China stammend hat sich die Edelkastaniengallwespe (Dryocosmus kuriphilus) von Italien her im Tessin und von Frankreich her im Waadtland und über das Rhone-Tal im Chablais ausgebreitet (die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL hatte im Juni 2012 ausführlich darüber berichtet).
Auch auf der Alpennordseite wurde sie in den Kantonen Zug und Aargau entdeckt, wahrscheinlich mit Jungpflanzen oder Pfropfreisern vom Ausland eingeschleppt. Die Wespe ist international als Quarantäneorganismus eingestuft. Für sie besteht eine Melde- und Überwachungspflicht.
Die kleine Gallwespe legt im Sommer ihre Eier in die frisch gebildeten Knospen. Aus den Eiern schlüpfen winzige Larven, die sich im nächsten Frühling weiter entwickeln. Die Raupen regen die Knospen zur Gallenbildung an. Aus den befallenen Knospen treiben keine Blätter und Blüten. Dies schwächt die Bäume und reduziert die Fruchtproduktion.
Achtung: Da ein frischer Befall durch die Edelkastaniengallwespe von aussen meist nicht erkennbar ist, besteht die Gefahr, mit Pflanzen diesen Parasiten unbeabsichtigt einzuschleppen. Deshalb: keine Jungpflanzen oder Pfropfreiser aus Befallsgebieten verwenden und Neupflanzungen regelmässig auf Befall kontrollieren!
Abb. 4 - Kastaniengallwespe - ein eingeschleppter Schädling - bedroht den Edelkastanienbestand in der Schweiz. Foto: Doris Hölling (WSL)
Abb. 5 - Galle einer Kastaniengallwespe mit Ausschlupfloch. Foto: Doris Hölling (WSL)
Ausflugstipps zur Edelkastanie
Im Herbst werden vielerorts im Oktober typische Kastanienfeste gefeiert: in Fully im Unterwallis die "Fête de la Châtaigne", die Chilbi in Murg (am Walensee) oder die "Chestene-Chilbi Greppen" am Vierwaldstättersee. So ein Festbesuch lässt sich zudem ideal mit Spaziergängen und Wanderungen in die nahe gelegenen Kastanienwälder kombinieren. So gibt es in Fully oberhalb des Dorfes einen schön gepflegten Kastanienhain mit Kastanienlehrpfad. Beim Bahnhof Murg beginnt ein beschilderter Kastanienweg und am Vierwaldstättersee führt der Rigi-Chesteneweg von Immensee nach Ingenbohl. In allen drei Gebieten stehen Tafeln, die über die Edelkastanie und deren Kultur informieren. Und zu guter letzt: Im Schweizerischen Freilichtmuseum Ballenberg (am Brünigpass) gibt es im Tessinerhaus von Cugnasco eine Ausstellung zur Kastanienkultur.